Forschungsplatz: einige Wolken am Horizont


Forschungsplatz: einige Wolken am Horizont

Die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der europäischen Union (EU) für ein Rahmenabkommen sind seit Mitte Oktober zum Stillstand gekommen. Ein wichtiger Streitpunkt sind die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit, welche die Arbeitnehmenden in der Schweiz vor Lohn- und Sozialdumping schützen.

Die EU erachtet die 8-Tage-Voranmeldefrist für entsandte Arbeitnehmer, die Kautionspflicht und die übertriebene Dokumentationspflicht für Selbstständige als diskriminierend und unverhältnismässig. Die EU macht sich stark für die Anwendung der EU-Entsenderichtlinie auf die Schweiz. Die EU ist nicht mehr bereit, der Schweiz eine vollständige Sonderbehandlung zu gewähren.

In der Schweiz sind die Gewerkschaften nicht bereit, Anpassungen bei den Lohnschutzmassnahmen anzunehmen. Sie haben im Sommer 2018 ihr Vetorecht eingelegt. Es besteht kein interner Konsens zur Änderung der aktuellen Verhandlungsposition, teilte das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten am 28. September 2018 mit.

Ohne eine Kompromisslösung bei den flankierenden Massnahmen rückt der Abschluss eines Rahmenabkommens in weite Ferne. Bis zur Abstimmung über die Selbstbestimmungsinitiative am 25. November 2018 ist der Bundesrat auf Tauchstation.

Das institutionelle Rahmenabkommen

Seit 2014 verhandeln die Schweiz und die EU über ein institutionelles Rahmenabkommen. Bereits 2012 hielt der Rat der EU fest, dass der Abschluss eines Abkommens über die institutionellen Fragen notwendig sei, um den bilateralen Weg mit der Schweiz weiterzuführen.

Das institutionelle Rahmenabkommen ist ein Instrument, um den gegenseitigen Marktzugang zu konsolidieren und weiterzuentwickeln. Zu diesem Zweck müssen sich die EU und die Schweiz auf einige wichtige Spielregeln einigen. Es braucht Lösungen für folgende vier Punkte:

  • die Anpassung der Abkommen, die einen Marktzugang vorsehen, an das EU-Recht.
  • die Überwachung der Abkommen
  • die Auslegung der Abkommen
  • die Beilegung von Streitigkeiten

Heute verwalten die gemischten Ausschüsse die Umsetzung und die Weiterentwicklung der bilateralen Abkommen. Sie setzen sich aus Vertretern der Schweiz und der EU zusammen, welche im gegenseitigen Einvernehmen im betreffenden Abkommen Entscheidungen treffen.

Ein Streitbeilegungsverfahren ist nach den heutigen Spielregeln nicht vorgesehen. Wenn keine Einigung möglich ist, bleibt das Problem heute ungelöst, wie das Beispiel der Lohnschutzmassnahmen eindeutig zeigt.

Das Schiedsgericht

Gemäss Verhandlungsmandat möchte die Schweiz ihre Autonomie und die direkte Demokratie wahren. Die Übernahme von Entwicklungen im EU-Recht, die für ein bestimmtes bilaterales Abkommen relevant sind, soll dynamisch und nicht automatisch erfolgen.

Die Streitigkeiten sollen im gemischten Ausschuss des betreffenden Abkommens stattfinden. Jede Vertragspartei hat dann die Möglichkeit, bei Differenzen über die Auslegung des in ein Abkommen übernommenen EU-Rechts, die Einsetzung eines Schiedsgerichts zu verlangen.

Jede Partei ernennt einen Schiedsrichter und die beiden Schiedsrichter ernennen einen Präsidenten. Das Schiedsgericht kann den europäischen Gerichtshof um eine Auslegung der umstrittenen Fragen ersuchen. Die Entscheidung des Schiedsgerichts ist endgültig und für die Parteien bindend.

Falls eine Partei die Entscheidung nicht umsetzt, kann die andere Partei angemessene Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Diese können bis zur teilweisen oder vollständigen Suspendierung des Abkommens führen. Ein Schiedsgericht kann auch die Verhältnismässigkeit der Ausgleichsmassnahmen beurteilen, falls eine Partei es verlangt.

Die roten Linien

Das Schiedsgericht sollte über die Auslegung des im Abkommen übernommenen EU-Rechts entscheiden. Der Anwendungsbereich des Rahmenabkommens spielt eine wesentliche Rolle. Die Schweiz will Ausnahmen von der Gerichtsbarkeit des europäischen Gerichtshofs erhalten.

Die Ausnahmen entsprechen den sogenannten roten Linien, welche der Bundesrat in seinem Verhandlungsmandat nicht überschreiten darf. Es handelt sich um die bekannten schweizerischen Lohnschutzmassnahmen zur Personenfreizügigkeit. Die Schweiz will ausserdem die EU-Unionsbürgerrichtlinie, eine weitere Koordination der Sozialversicherungssysteme und die EU-Regelungen zu den staatlichen Beihilfen nicht übernehmen.

Aufgrund der innenpolitischen und aussenpolitischen Blockaden ist es fraglich, ob es der Schweiz und der EU  – wie ursprünglich geplant – noch 2018 gelingt eine grundsätzliche Einigung über das Rahmenabkommen zu erzielen, wie ursprünglich geplant.

Der Stillstand schafft Unsicherheit

Ohne Fortschritte bei den Verhandlungen über das Rahmenabkommen ist die EU nicht bereit, die Gleichwertigkeit der Schweizer Börsenregulierung für das Jahr 2019 zu gewähren.

Die Schweiz kann ihrerseits den definitiven Entscheid über die Kohäsionsmilliarde zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der EU von der Anerkennung der Börsenäquivalenz abhängig machen.

Wenn sich die Schweiz und die EU nicht auf ein Rahmenabkommen einigen, kann die Schweiz keine neuen Marktzugangsabkommen schliessen. Es besteht das Risiko von neuen Hürden für den Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt.

Die Teilnahme der Schweiz an den europäischen Forschungsprogrammen, die neu ausgehandelt werden müssen, wäre auch gefährdet.

Die europäischen Forschungsprogramme

Die Teilnahme der Schweiz an den Forschungsrahmenprogramme der EU gehört zu den Prioritäten der Schweizer Wissenschafts- und Innovationspolitik. Die internationale Zusammenarbeit in Forschung und Bildung stärkt die Qualität und die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz als Forschungsstandort.

Das Forschungsabkommen gehört zum ersten Paket der bilateralen Abkommen, welche die Schweiz und die EU im Jahr 1999 abgeschlossen haben. Diese bilateralen Abkommen wurden am 21. Mai 2000 vom Volk mit 67,2% Ja-Stimmen angenommen.  Sie sind am 1. Juni 2002 in Kraft getreten.

Seit 2004 ermöglicht das Forschungsabkommen der Schweiz, sich vollständig an den Forschungsprogrammen der EU (FRP) zu beteiligen. Die FRP werden von den EU-Mitgliedstaaten über die regulären Beiträge an die EU finanziert.

Assoziierte Staaten, wie die Schweiz, leisten anteilsmässig Beiträge gemäss ihrem Bruttoinlandsprodukt. Mit dieser Beteiligungsform haben Schweizer Forschungseinrichtungen das Recht, Projekte zu koordinieren und zu leiten. Als assoziierter Staat hat die Schweiz ein Mitspracherecht in den verschiedenen Steuerungs- und Beratungsausschüssen.

Vor 2004 nahm die Schweiz als Drittland an den europäischen Forschungsprogrammen teil. Sie musste die Teilnahme selber finanzieren. Schweizer Forschende hatten kein Recht, Projekte zu koordinieren.

Horizon 2020

Die 8. Generation der Forschungsrahmenprogramme der Europäischen Union trägt den Namen Horizon 2020. Sie dauert von 2014 bis 2020 und verfügt über ein Gesamtbudget von rund 80 Mia. EUR.

Sie besteht aus drei Schwerpunkten: die Stärkung der Grundlagenforschung; die Förderung der Investitionen in Forschung und Entwicklung in zentralen Industriebereichen, wie Informations- und Kommunikationstechnologien, Nanotechnologie und Biotechnologie; die Lösung von gesellschaftlichen Herausforderungen in den Bereichen Ernährung, Gesundheit und Umwelt.

Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative

Am 9. Februar 2014 nahm das Schweizer Stimmvolk mit 50,3% Ja-Stimmen die Initiative «gegen Masseneinwanderung» der Schweizerischen Volkspartei (SVP) an. Sie verlangt, dass die Schweiz die Zuwanderung mit jährlichen Kontingenten und Höchstzahlen eigenständig steuert.

Nach Annahme dieser Initiative konnte der Bundesrat das Zusatzprotokoll zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien nicht unterschreiben. Als Reaktion darauf blockierte die EU die Vollassoziierung der Schweiz an die FRP «Horizon 2020» und an das Studentenaustauschprogramm «Erasmus».

Von 2014 bis 2016 konnten sich die Schweizer Forschungsinstitutionen nur teilweise an diesen europäischen Forschungsprogrammen beteiligen. Das Schweizer Parlament hat sich im Dezember 2016 über eine Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, die mit der Personenfreizügigkeit vereinbar ist, geeinigt. Mit beschlossenem Inländervorrang sollen inländische Arbeitskräfte bei der Stellensuche unterstützt und bevorzugt werden.

Das Gesetz sieht insbesondere die Einführung einer Stellenmeldepflicht in denjenigen Berufsarten vor, in denen die Arbeitslosenquote einen bestimmten Schwellenwert erreicht oder überschreitet. Seit dem 1. Juli 2018 gilt ein Schwellenwert von 8% und ab dem 1. Januar 2020 ein Schwellenwert von 5%.

Diese Kompromisslösung hat dem Bundesrat ermöglicht, die Erweiterung des Freizügigkeitsabkommens mit Kroatien zu ratifizieren und somit die Blockade bei der Teilnahme an den FRP Horizon 2020 zu lösen.

Mit der Vollassoziierung können sich Forschende in der Schweiz seit dem 1. Januar 2017 wieder als gleichberechtigte Partner in allen Bereichen von Horizon 2020 beteiligen.

Der Ausschluss hat Spuren hinterlassen

Der vorübergehende Teilausschluss von den EU-Forschungsprogrammen hat negative Auswirkungen auf den Forschungsplatz Schweiz gehabt, wie der Bericht des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) vom 20. September 2018 zeigt.

Die deutlichsten Indikatoren dafür sind der Rückgang der Schweizer Beteiligungen von 3,2% der gesamten Beteiligungen im 7. FRP auf bisher 2,4% in Horizon 2020, die Abnahme des Schweizer Anteils an den Koordinationen von 3,9% auf 2,6% sowie die Verminderung der Beiträge an Schweizer Forschungsinstitutionen von 4,3% auf 3,5% aller in Horizon 2020 bisher verpflichteten Beiträge.

Die Schweiz zählt per Stichtag (6. März 2018) insgesamt 1942 Projektbeteiligungen, für welche Beiträge in der Höhe von 1141,1 Mio. CHF gesprochen worden sind. Dabei stammen diese Gelder zu 58% aus der EU für die Bereiche, in denen die Schweiz assoziiert ist. Zu 42% stammt die Finanzierung direkt vom Bund für die Bereiche, in denen die Schweiz 2014-2016 Drittstaat war.

Seit Beginn von Horizon 2020 und bis Ende 2017 hat der Bund Pflichtbeiträge der Schweiz an die Europäische Union von insgesamt 724 Mio. CHF überwiesen. Die Schweiz hat im Gegenzug zwischen 2014 und 2017 Forschungsbeiträge aus der EU in der Höhe von 654 Mio. CHF zugunsten von Schweizer Institutionen erhalten.

Bis heute hat somit die Schweiz 70 Mio. CHF mehr an Beiträgen an die EU einbezahlt als sie an Forschungsmitteln aus der EU erhalten hat.

Der Forschungsplatz Schweiz macht sich Sorgen

Nach den Erfahrungen mit der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative machen sich die Akteure des Schweizer Forschungsplatzes stark für den Abschluss eines Rahmenabkommens mit der EU, um die Teilnahme der Schweiz als voll assoziiertes Land an den nächsten europäischen Forschungsprogrammen «Horizon Europe» zu gewährleisten.

Horizon Europe ist das Rahmenprogramm, das ab 2021 europäische Forschung und Entwicklung mit einem Gesamtvolumen von fast 100 Mia. EUR stärken soll. Die Europäische Kommission hat einen ersten Vorschlag gemacht, den das Europäische Parlament zurzeit prüft.

«Das Rahmenabkommen ist wichtig für Stabilität und Rechtssicherheit in den Beziehungen der Schweiz zur EU. Inhaltlich hat es keine direkte Verbindung mit Horizon Europe.»

«Nach den Erfahrungen mit der Masseneinwanderungsinitiative scheint es aber wahrscheinlich, dass die Haltung der Schweiz in diesem politischen Dossier einen Einfluss auf ihre Beteiligung an Horizon Europe haben wird», sagte Angelika Kalt, Direktorin des Schweizerischen Nationalfonds (SNF), in einem Interview vom 2. November 2018.

Der Bund und die Akteure der Schweizer Wissenschaft, wie die Rektorenkonferenz der Schweizer Hochschulen, setzten sich dafür ein, dass das Europäische Parlament dem assoziierten Status der Schweiz zustimmt.

(c) Andrea Arcidiacono

Quellen: 

  1. Europadossier: Der Bundesrat setzt die Verhandlungen mit der EU im Rahmen des bestehenden Mandats fort, 28.9.2018. https://bit.ly/2Tq9Uik
  2. Rechtlicher und institutioneller Rahmen, 6.2.2019, https://bit.ly/2C4fcpJ
  3. Forschung, Stand Oktober 2018, https://bit.ly/2UkXzck
  4. Horizon 2020, https://bit.ly/2IPfPcG
  5. Stellenmeldepflicht, 1.7.2018, https://bit.ly/2NqajeK
  6. Zahlen und Fakten zur Beteiligung der Schweiz an den europäischen Forschungsprogrammen, 20.9.2018 https://bit.ly/2ToDnJw
  7. «Die Schweizer Forschung braucht Europa», SNF, 2.11.2018, https://bit.ly/2tOLiRT
  8. Relevanz eines Forschungsabkommen für die Schweizer Hochschulen, swiss universities, 27.9.2018, https://bit.ly/2GZ3ssw
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